Latein Wörterbuch - Forum
Glaubensfrage beim daktylischen Hexameter — 1304 Aufrufe
Laocoon am 11.6.12 um 8:52 Uhr (Zitieren)
salvete sodalis.
Kann mir jemand bei einer Grundsatzfrage zur lateinischen Metrik weiterhelfen?
Da ich die Metrik im Selbststudium nachholen muss, habe ich mir zwei Büchlein besorgt, die ich nebeneinander lese und bearbeite: das Reclam-Büchlein von Stephan Flaucher sowie das „Compendium zur lateinischen Metrik“ von Hans-Joachim Glücklich. Kennt Ihr die?

Wenn ich Stephan Flauchers „Lateinische Metrik“ (Reclam) richtig verstehe, gibt der daktylische Hexameter die Betonung klar vor:

árma virúmque canó (!), Troiáe (!) qui prímus ab óris
--> Ich glaube also, der daktylische Hexameter zwingt mich dazu, canó und Troiáe schlussbetont zu lesen, also gegen die Paenultima-Regel.

Doch daneben lese ich im Büchlein von Hans-Joachim Glücklich („Compendium zur lateinischen Metrik“) dies:
„Es ist umstritten, ob im Vers andere Betonungsregeln als in der Prosa gelten.“
Und bei den Tipps: „Nicht gegen die Normalbetonung betonen. Lange Silben langsamer und kurze Silben kurz lesen und sprechen.“
Ausserdem heisst es da: „Die gegen die Normalbetonung verstossende Leseweise wurde (leider) lange verwendet. Neuere Erkenntnisse sprechen dagegen. Wenn man ganz einfach der normalen Betonung folgt, ergibt sich der richtige Rhythmus.“

Hm. Gemäss Glücklich liest sich der Anfang von Vergils Aeneis also so:
árma virúmque cánoo (!), Tróiae (!) qui ...
Und offenbar eben nicht „canó“ und „Troiáe“.

Was ist denn nun richtig oder besser? Das scheint ja eine Glaubensfrage zu sein: Im Reclam-Büchlein wird im Vers strikte nach Vorgabe betont und deshalb gibts auch schlussbetonte, mehrsilbige Wörter. Beim Compendium hingegen ist davon die Rede, man soll „normal“ betonen, aber die Längen beachten und entsprechend aussprechen. Wem soll ich nun folgen?

Vielen Dank im voraus für Eure Hilfe!
Re: Glaubensfrage beim daktylischen Hexameter
Elisabeth am 11.6.12 um 9:15 Uhr (Zitieren)
Das ist in der Tat eine Glaubensfrage.

Die, soweit ich sehe, „ältere“ Meinung (die aber immer noch existiert und tradiert wird) geht so, wie von dir aus dem Reclam-Heft zitiert.

Die „neuere“ und ach so „richtige“ sieht vor, dass die Wortbetonung (Ictus) auch im Vers erhalten bleibt und nur zusätzlich auch noch die rhythmische Anordnung der Wörter eine Rolle spielt. Das ist für Deutsche schwierig, weil unsere Dichtung ja, sofern sie sich reimt, immer den Wortakzekt so legt, dass er mit dem Versakzent zusammenfällt. Wir haben kein rechtes Ohr für die Länge oder Kürze (zumal lateinischer) Silben.

(Nur so nebenbei: Mich erinnern diese Diskussionen an die über die historische Aufführungspraxis in der Musik.)

Ich würde die Frage genau so, wie du sie uns gestellt hast, mal an einer für dich maßgeblichen Stelle vorbringen. Du studierst ja vermutlich Latein? - Dann frag einen deiner Profs oder Tutoren, wie es bei euch üblich ist. Danach kannst du dich dann richten.
Re: Glaubensfrage beim daktylischen Hexameter
esox am 11.6.12 um 9:18 Uhr (Zitieren)
Naturbetonungen (paenultima-Regel) spielen bei der Längen und Kürzen messenden Metrik zunächst keine Rolle. In der Praxis fallen sie mit dem Iktus in der zweiten Hexameter-Hälfte meist zusammen; in der ersten Hälfte wird das häufige Auseinandergehen von Naturbetonung und Iktus eher als ästhetischer Reiz empfunden.
Re: Glaubensfrage beim daktylischen Hexameter
Laocoon am 11.6.12 um 13:04 Uhr (Zitieren)
Vielen Dank, elisabeth und esox! (Übrigens merke ich gerade, dass ich in der Eile sodalis statt sodales getippt habe; date veniam).
Deinen ratschlag habe ich bereits befolgt, Elisabeth, und bei den Dozenten eine kleine Anfrage gestartet. Nach welchem „Betonungssystem“ gehst Du denn vor?
Danke auch Dir, esox; ich hatte tatsächlich das Gefühl, dass es in der zweiten hälfte besser zusammenpasst, die „normale“ und die metrische Betonung. Du gehst also nach der „alten“ Betonung vor, richtig?
Nochmals vielen Dank für Eure Erklärungen und Anregungen.
Re: Glaubensfrage beim daktylischen Hexameter
Elisabeth am 11.6.12 um 19:36 Uhr (Zitieren)
Um ganz genau zu sein, fallen im letzten VersDRITTEL (also bei den letzten beiden Versfüßen) Wortakzent und Versakzent zusammen.

Soweit ich sehe, wird in Schulen die Version mit den ggf. wechselnden Betonungen verwendet. Aber ich kann mich da auch irren.
Re: Glaubensfrage beim daktylischen Hexameter
Arborius am 11.6.12 um 20:01 Uhr (Zitieren)
Ich erkläre meinen Schülern, dass der Römer eben das genannte „andere Ohr“ hatte und seine Betonung nicht umgestellt hat, dass aber wir Barbaren gar nicht anders können. Sonst habe ich jedenfalls keinen metrischen Genuss beim Lesen.
In Glaubensfragen muss man manchmal pragmatisch sein.
Re: Glaubensfrage beim daktylischen Hexameter
Laocoon am 11.6.12 um 22:09 Uhr (Zitieren)
Danke, Arborius. Du bringst es also den Schülern also so bei: árma virúmque canó und nicht cánoo, richtig?
Weiss zufällig jemand, ob es irgendwo im Internet als Audio undVideo Hexameter zu hören gibt? Denn das ist eigentlich schade, beim Selbststudium hat man keinen, der einem vorspricht (und dann korrigiert). Ich schau mal auf Youtube, obs da was hat...
Re: Glaubensfrage beim daktylischen Hexameter
Laocoon am 11.6.12 um 22:22 Uhr (Zitieren)
Also, da hats einen Spanier, der spricht das schön aus, oder?
http://www.youtube.com/watch?v=f2s8ZOVq3tE
 
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